Wer heute einkauft, steht vor einer immensen Auswahl: nicht nur beim „Was“ – allein ein Supermarkt hat rund 25.000 Produkte im Sortiment. Sondern auch beim „Wie“. Bis zum Beginn des neuen Jahrtausends wurde fast ausschließlich am stationären POS geshoppt; ergänzt um ein paar Bestellungen über Print-Kataloge. Seitdem sind immer mehr digitale Kanäle dazugekommen, über die immer mehr Umsatz realisiert wird.
Durch die Corona-Krise hat der E-Commerce-Einkauf noch einmal gehörig an Fahrt gewonnen und sich auf Segmente ausgedehnt, die bislang noch ziemlich analog waren: Das gilt vor allem für den Lebensmitteleinzelhandel. Kein Wunder – schließlich bietet das digitale Shopping Vorteile, die auch die vielen „Hamsterkäufer“ (zwangsläufig) schätzen gelernt haben: Das Warten vorm Laden entfällt, Maske und Mindestabstand spielen keine Rolle und eine Infektion ist ausgeschlossen. Der Wunsch nach mehr Hygiene hat auch andere Themen ins Bewusstsein gerückt, die in Deutschland eher einen schweren Stand haben: das bargeldlose Bezahlen und das Bezahlen an Self-Service-Kasse.
Aus diesen Gründen haben Einzelhändler, die bereits vor der Krise ihre Produkte in einem Online-Shop angeboten haben, enorm profitiert. Zumal dann, wenn sie analoge und digitale Aspekte pragmatisch miteinander verzahnt haben. Neben der Lieferung des online bestellten und bezahlten Produkts nach Hause sind vor allem die unterschiedlichen Click-&-Collect-Varianten in den Fokus gerückt. Kunden bestellen Produkte online und holen sie dann selbst in einer Filiale ab.
Hat die Corona-Krise die Zerstörung des stationären Einzelhandels eingeläutet?
Vor diesem Hintergrund drängt sich eine Frage auf: Hat die Corona-Krise die Zerstörung des stationären Einzelhandels eingeläutet? Um es mit Youtuber Rezo zu sagen. Soweit würde ich nicht gehen. Denn analoge Läden mit analogen Menschen bieten spezifische Vorteile, die sich digital absehbar nicht verwirklichen lassen. Dazu gehören vor allem der persönliche Kontakt, das haptische Erlebnis und die zeitliche Unmittelbarkeit. Aber: Die Kunden haben in den zurückliegenden Wochen und Monaten Erfahrungen gemacht, die sie gewiss auch künftig nicht missen wollen. Die Büchse der Shopping-Pandora ist geöffnet. Insofern stehen Händler, die noch keinen Schritt Richtung E-Commerce gemacht haben, gehörig unter Druck, schleunigst nachzuziehen. Machen sie das nicht, droht zumindest ihnen die Zerstörung.
Unreflektierter Aktionismus ist trotz des fundamentalen Wandels nicht ratsam. Ganz im Gegenteil. Es lohnt sich zunächst ein Blick auf den Kern der Sache. Menschen kaufen aus rationalen und emotionalen Gründen und auf unterschiedliche Weise. Sie müssen essen, die Wohnung putzen und etwas anziehen. Sie lieben Schokolade, mögen den Geruch eines bestimmten Reinigungsmittels und identifizieren sich mit ihrer Klamotten-Love-Brand. Manchmal kaufen sie systematisch und manchmal ziemlich spontan. Bei all dem ist eines immer gleich. Kunden erwarten ein überzeugendes Einkaufserlebnis – oder eine herausragende Customer Experience, wie es im Marketing heißt. Konkret bedeutet das: Kunden möchten möglichst bequem, schnell und preiswert einkaufen, sie wünschen sich eine große Auswahl und eindeutige Informationen, der Service soll freundlich sein, die Beratung kompetent. Und das unabhängig davon, ob sie sich gerade analog oder digital bewegen.
Ein Multi- beziehungsweise Omni-Channel-Ansatz ist für die allermeisten Einzelhändler eine gute Idee, weil sich damit die unterschiedlichen Anforderungen der Kunden optimal adressieren lassen. Im stationären Geschäft können Kunden die Produkte unmittelbar erleben, sich ausführlich dazu beraten lassen und den Einkauf sofort mitnehmen – ohne Versandkosten, ohne Lieferzeiten. Online gelten keine zeitlichen und räumlichen Einschränkungen, das Sortiment ist größer und die Bequemlichkeit höher. Die Kombination von analog und digital geht übrigens in beide Richtungen: Händler, die ursprünglich ausschließlich stationär aufgestellt waren, bieten zusätzlich Online-Shops an. „Online Pure Player“ wie Mister Spex (Brillen) und Home24 (Einrichtung) eröffnen immer häufiger stationäre Filialen.
Vor allem auf dem Weg von analog zu digital gibt es allerdings eine Falle, in die in der Vergangenheit viele Handelsunternehmen getappt sind. Digitale Technologien stellen attraktive Cross- und Up-Selling-Möglichkeiten in Aussicht, die häufig auf der Analyse von Kundendaten basieren. Das wird dann zwar als super Tool für mehr Customer Experience kommuniziert. Viele Kunden nehmen solche Versuche aber eher als nervig wahr – und bei sehr offensivem Analytics-Einsatz sogar als spooky.
Die Chance nutzen
Insofern können Einzelhändler die Corona-Krise gleich doppelt als Chance nutzen: Einmal, um das Geschäftsmodell und die Services technologisch zu modernisieren, also zu digitalisieren. Zum anderen, um die Interessen der Kunden wirklich in den Mittelpunkt zu rücken und hinsichtlich der verkaufspsychologischen Maßnahmen den Bogen nicht zu überspannen. Handelsunternehmen, die die Zeichen der Zeit (oder Kunden) noch immer nicht erkennen, haben es in Zukunft extrem schwer. Das umso mehr, weil die Corona-Pandemie gewiss nicht die letzte weltweite Krise ist. Vieles spricht dafür, dass solche Black-Swan-Ereignisse in unserer globalisierten Welt zunehmen. Einzelhändler tun also gut daran, aus der aktuellen Situation zu lernen, darauf kurzfristig zu reagieren sowie mittel- und langfristig an einer höheren Agilität zu arbeiten. Spätestens, wenn der stationäre Handel vom nächsten Shutdown betroffen ist, fällt die Wahl der Kunden klar zugunsten von Multi-Channel-Anbietern aus – egal, ob es sich um einen „Lust-“ oder um einen „Hamsterkauf“ handelt.